Die Rede unseres Fraktionsvorsitzenden Dr. Till Müller-Heidelberg im Stadtrat hier in voller Länge:
Dieser Nachtragshaushalt ist geprägt davon, dass wir in den Jahren 2011 und 2012 insgesamt € 10 Mio. weniger Gewerbesteuereinnahmen haben als geplant. Wie soll man damit umgehen ? Sicherlich nicht so, wie geschehen:
Am Mittwoch letzter Woche wird der Nachtragshaushaltsplan im Haupt- und Finanzausschuß eingebracht mit 570 Seiten mit dem Beschlußvorschlag, in derselben Sitzung sofort einen Empfehlungsbeschluß für den heutigen Stadtrat zu fassen. Auf Protest der SPD-Fraktion zu diesem Verfahren wird dann heute unmittelbar vor der Ratssitzung zur Beratung über den Nachtragshaushalt eine Haupt- und Finanzausschußsitzung einberufen, deren Ergebnisse die Ratsmitglieder, die nicht Mitglied im Ausschuß sind, zwangsläufig nicht kennen können, und dennoch soll jetzt unmittelbar darüber der Rat beschließen. Dies obendrein über eine Nachtragshaushaltssatzung, die noch nicht einmal im Entwurf im Haupt- und Finanzausschuß vorlag und die uns erst jetzt als Tischvorlage präsentiert wird. Immerhin mit dem Vorschlag, ca. € 7,5 Mio. Kredite aufzunehmen !
Schon allein dieses Verfahren ermöglicht keine sachgemäße und verantwortungsbewußte Behandlung des Nachtragshaushalts durch den Rat, so dass allein dieses zur Ablehnung führen müßte. Wie können Ratsmitglieder, die weder die Beratungen im Haupt- und Finanzausschuß noch die Ergebnisse kennen, verantwortungsvoll über einen Haushalt entscheiden ? !
Aber auch inhaltlich gilt es, Kritik zu üben.
€ 10 Mio. weniger Gewerbesteuereinnahmen im Doppelhaushalt 2011/2012 sind kein Pappenstiel. Zwar führt das dazu, dass die Stadt Bingen auch weniger Gewerbesteuerumlagen an Kreis und Land zahlen muß, und aufgrund der somit gesunkenen Steuerkraft von Bingen erhält die Stadt auch höhere Zahlungen aus dem Finanzausgleich und kann auch ein wenig höhere Einkommen- und Umsatzsteuer verbuchen (€ 750.000,–), aber das ändert nichts daran, dass sie im Ergebnishaushalt, der die laufenden Einnahmen und Aufwendungen verbucht, ein Defizit von € 3 Mio. aufzuweisen hat.
Hier hat wohl die Presse (Kommentar von Herrn Lang in der AZ vom 11.11.11) etwas mißverstanden – vermutlich genauso wie auch manches Ratsmitglied: In der Verwaltungsvorlage für den Nachtragshaushalt steht nämlich, dass dieses Defizit ausgeglichen werde durch Überschüsse aus den beiden vorhergehenden Jahren, wo wir exorbitante Gewerbesteuereinnahmen hatten, und mancher versteht dies wohl so, dass wir einen ausgeglichenen Haushalt hätten und uns deshalb keine Sorgen zu machen brauchten. Leider ist das falsch. Denn der sog. „Haushaltsausgleich“ erfolgt nach der Gemeindehaushaltsverordnung lediglich dadurch, dass wir das Defizit durch frühere Ersparnisse ausgleichen. Das ist so, als wenn einer von uns ein Jahreseinkommen von € 30.000,– hat, aber € 50.000,– ausgibt und er dann zur Sparkasse geht und von seinem Sparbuch € 20.000,– Ersparnisse oder Erbschaft von der Großmutter abhebt und erklärt: „Meine Einnahmen und Ausgaben im Jahr sind ausgeglichen.“
An diesem Beispiel erkennt hoffentlich jeder, wo wir stehen: Wir geben mehr aus als wir einnehmen – und das selbst ohne Berücksichtigung von kreditfinanzierten Investitionen.
Und damit komme ich zum zweiten Punkt, zum Finanzhaushalt.
Im Doppelhaushalt 2011/2012, den wir am 8. Dezember letzten Jahres verabschiedet haben, war eine Kreditaufnahme vorgesehen von € 4,8 Mio., die zu einer geplanten Verschuldung am Ende des Doppelhaushaltes von € 44 Mio. führte, der höchsten Verschuldung der Stadt Bingen in ihrer Geschichte. Wir Sozialdemokraten haben uns daraufhin dazu gezwungen gesehen, diesen Haushalt abzulehnen.
Mit dem jetzt vorliegenden 1. Nachtragshaushalt soll die Kreditaufnahme noch einmal steigen, nämlich auf ca. € 7,5 Mio., und am Ende dieses Doppelhaushalts soll eine Verschuldung der Stadt Bingen stehen von € 46,5 Mio.
Dies bedeutet eine Verschuldung je Einwohner der Stadt Bingen einschl. jedes Babys, jedes Rentners und jedes Hartz IV-Beziehers von € 1.840,–, während die durchschnittliche Verschuldung von Städten unserer Größenordnung nach den Zahlen des Statistischen Landesamtes bei € 800,– liegt. Wir haben also eine mehr als doppelt so hohe Verschuldung je Einwohner wie vergleichbare Städte !
Wir sehen nicht, dass die sog. bürgerliche Koalition, die die Mehrheit in Bingen hat, und die die Spitze der Verwaltung stellt, die Zeichen der Zeit erkennt und bereit ist, dem Marsch in den Schuldenstaat entgegen zu wirken, und dies auf allen Ebenen unseres Staates. Auf Bundesebene nützt Schwarz-Gelb nicht die Steuermehreinnahmen zur Verminderung der Kreditaufnahme (geschweige denn zum Abbau der Schulden), sondern verteilt lieber Steuergeschenke an die Hoteliers und macht den Staat arm durch Steuersenkungen. Im Land fordert die CDU-Opposition zwar pauschal Einsparungen, protestiert aber gegen absolut jeden konkreten Sparvorschlag der Landesregierung, ohne ihrerseits dem eigene Sparvorschläge entgegenzusetzen – und Bürgermeister Feser schließt sich dem in Presseerklärungen an. Und auf unserer eigenen kommunalen Ebene in der Stadt Bingen ist von Sparbemühungen nichts zu sehen.
Einem solchen Nachtragshaushalt können Sozialdemokraten nicht zustimmen. Und dabei wäre doch wenigstens ein Einstieg in Sparmaßnahmen so leicht:
Aus Prestigedenken hat die Stadt Bingen entgegen der gesetzlichen Grundlage beim Kreis die Übernahme der Trägerschaft für die Realschule Plus am Scharlachberg beantragt und erhalten. Dies kostet uns in diesem Doppelhaushalt € 2 Mio. an Investitionen und darüber hinaus an laufenden Ausgaben (im Nachtragshaushalt nochmals um € 150.000,– gestiegen) ca. € 1,5 Mio. Wir haben bereits bei Verabschiedung des Doppelhaushalts beantragt, die Trägerschaft auf den Kreis zurück zu übertragen und diese Gelder zu sparen, denn niemand in Bingen hat etwas von dieser Trägerschaft außer der Bürgermeister, der als Schuldezernent sich rühmen darf, für die Stadt Bingen diese Trägerschaft zu haben. Die Schüler haben nichts davon, die Eltern haben nichts davon, die Lehrer haben nichts davon, denn für alle diese Personen ist es völlig gleichgültig, wer die Trägerschaft für die Schule hat. Dadurch ändert sich im Schulleben absolut gar nichts. Und auch die Stadt Bingen hat nichts davon, denn sie hat dadurch nicht etwa Einfluß auf eine gute oder schlechte Schule, sie hat keinen Einfluß auf die Lehrerschaft (Landesbeamte), sie hat keinen Einfluß auf die Lehrpläne oder das pädagogische Konzept – sie darf lediglich die Kosten tragen und den Hausmeister beschäftigen und bezahlen. Diese überflüssigen Ausgaben zu vermeiden, haben wir bereits im letzten Dezember vergeblich beantragt, aber auch heute noch wäre dies möglich.
Im Haushalt sind vorgesehen knapp € 2 Mio. für die Brücke am Stadtbahnhof von der Mainzer Straße in den Hafenpark, wenn auch erst für 2013. Abgesehen davon, dass inzwischen statt der € 2 Mio. mit € 3 Mio. gerechnet werden muß, gibt es inzwischen mit Ausnahme von Herrn Mansfeld wohl kaum noch einen Befürworter dieser Brücke. Über Sinn und Unsinn dieser Brücke kann man trefflich streiten, aber zumindest angesichts der Haushaltslage läßt sich dafür eine Ausgabe von € 3 Mio. nicht rechtfertigen. Die SPD beantragt, diese Position im Haushalt zu streichen.
Auch die kreuzungsfreie Anbindung am Rhein-Nahe-Eck geistert durch die Planungen der Stadt Bingen seit über 30 Jahren. Im Doppelhaushalt waren € 300.000,– für die Jahre 2011/2012 für weitere Planungsmaßnahmen vorgesehen. Im Nachtragshaushalt werden sie lediglich auf 2012 bis 2014 verschoben. Wer glaubt noch wirklich, dass die Zuschüsse von Deutscher Bahn, Bund und Land für dieses Projekt im zweistelligen Millionenbereich fließen werden, dass die Stadt Bingen genügend Eigenmittel dafür haben wird ? Wäre es nicht an der Zeit, auch über den Sinn und Unsinn der sechsstelligen Planungskosten nachzudenken ?
Der Nachtragshaushalt ist daher aus unserer Sicht nicht zustimmungsfähig.